Die Corona-Pandemie gleicht einem großangelegten Feldversuch für neue Arbeitsformen. Der Homeoffice-Boom während des Lockdowns hat die Grundfesten der Präsenzkultur mit ihrer strikten Trennung zwischen Lebens- und Arbeitswelt erschüttert und beflügelt die Diskussionen über die „neue Normalität“. Dabei bewegte sich dieser Diskurs in den letzten Jahren häufig zwischen zwei Polen: einerseits Befürchtungen und Vorurteile gegen Angestellte, die zu Hause eine vermeintlich ruhigere Kugel schieben als im Büro. Andererseits der verklärende Blick auf die größere Autonomie, die das Homeoffice bei der Arbeitszeitgestaltung bietet und so eine bessere Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit ermöglicht.

Die Erfahrungen während der Corona-Krise haben diese eher in Schwarz-Weiß-Tönen gezeichnete Argumentation um praktische Erkenntnisse bereichert. In der Bürowelt „ante Corona“ haben etwa zwölf Prozent der Beschäftigten den festen Arbeitsplatz im Firmengebäude für immer oder gelegentlich mit dem häuslichen Arbeitszimmer getauscht. Im April 2020 arbeiteten über 35 Prozent von zu Hause aus, so die Daten des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Mit den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen kehrten viele Erwerbstätige nach und nach wieder in die Büros zurück: Anfang Juli 2020 lag der Anteil der im Homeoffice Arbeitenden bei 28 Prozent. Etwa drei Viertel der Unternehmen in Deutschland setzten nach Angaben des Ifo-Instituts bei der Bewältigung der Covid-19-Krise auf die verstärkte Nutzung von Heimarbeit. Beschäftigte mit Hochschulabschluss sind unter den „mobilen Arbeitern“ überproportional vertreten: Von den Mitarbeitern mit hohem Bildungsniveau nutzten fast zwei Drittel das Homeoffice.

In der repräsentativen Umfrage „Digitalisierung und Homeoffice in der Corona-Krise“ erkundigte sich die Krankenkasse DAK im April 2020 nach der Befindlichkeit derjenigen, die während des Lockdowns erstmals Erfahrungen mit dem Arbeiten von zu Hause machten. Die große Mehrzahl der über 6 000 Befragten berichtet über eine „erfreuliche Work-Life-Balance – bei guter Produktivität“. Nach eigenen Angaben arbeitet die Mehrheit der Interviewten (59 Prozent) zu Hause produktiver als am normalen Arbeitsplatz. Als riesiger Vorteil von Homeoffice gilt über zwei Dritteln der Befragten der Zeitgewinn, weil das Pendeln wegfällt.

Ein ähnlich zufriedenes Bild zeichnete eine Längsschnittstudie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die schon vor dem Corona-Ausnahmezustand entstanden war: Neben der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben schätzten die Befragten an der Heimarbeit, dass berufliche Tätigkeiten besser zu erledigen seien und die Arbeitszeit bei Bedarf angepasst werden könne. Vor allem Frauen berichteten den IAB-Forschern über ihre positiven Erfahrungen „mit einem ausgewogenen Mix aus Homeoffice und Präsenztätigkeit“.

Doppelbelastung Familie und Beruf

Diese Einschätzung galt wohlgemerkt für Rahmenbedingungen, in denen die Betreuung des Nachwuchses in Kindertagesstätten und der Schulunterricht gesichert waren. Während des Lockdowns erlebten viele Eltern das Homeoffice gestresst im Survival-Modus, weil konzentriertes Arbeiten bei gleichzeitiger Kinderbespaßung und Homeschooling der Quadratur des Kreises gleichkommt. Ein Autor und Familienvater dazu auf Twitter: „Ich möchte meine komplexen Gedanken zum Thema Homeoffice in Verbindung mit Haushalt, Homeschooling, Erziehung und geistiger Gesundheit aller Beteiligten vorsichtig mit einem Wort zusammenfassen: Nein.“ Wissenschaftlich formuliert, aber im Kern identisch sind erste Forschungsergebnisse des IAB zum Aspekt „Doppelbelastung“ während der Corona-Krise: Von den Personen, die Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit von zu Hause aus vereinbaren mussten, haben knapp 38 Prozent der Männer und über 53 Prozent der Frauen zu komplett anderen Zeiten gearbeitet als zu normalen Bedingungen. 40 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen mit Betreuungsaufgaben nahmen ihre Arbeit während der Corona-Krise als weniger effizient wahr.

Anders als die multitaskenden, zu Hause arbeitenden Eltern litten manche Solo-Wohnenden unter der Stille im Homeoffice. Für extreme Entzugserscheinungen gibt es Angebote wie die Website mynoise.net mit Büro-Geräuschkulissen für den Arbeitsplatz zu Hause. Aber die realen Begegnungen mit Kollegen lassen sich auf Dauer weder durch Video-Konferenzen noch digitale Mittagspausen ersetzen. Hannes Zacher forscht an der Universität Leipzig zu den Themen Selbstmanagement und Wohlbefinden im Beruf. Der Wissenschaftler betont in seinen Statements immer wieder die Bedeutung der persönlichen Interaktion: Nonverbale Signale, die über virtuelle Kommunikationskanäle eingeschränkt oder gar nicht übertragbar sind, spielen dabei eine wichtige Rolle. Je komplexer und kreativer eine Aufgabe sei, desto wichtiger der persönliche Kontakt innerhalb des Teams.

Grenzen verschwimmen

Als Professor für Arbeitspsychologie beschäftigt sich Zacher auch mit einem weiteren Aspekt des Homeoffice: Wenn es keine physische Trennung zwischen Arbeit und Feierabend gibt, verschwimmen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben. Spätabends oder am Wochenende E-Mails zu beantworten, ist für manche Beschäftigte längst üblich. Diese „Entgrenzung“ lässt sich zwar durchaus als Autonomie bei der Arbeitszeitgestaltung interpretieren, kann aber auch zum Stressfaktor mutieren: Immer online, wird das mentale Abschalten schwierig, zumal wenn es von Seiten der Vorgesetzten einen latenten Erwartungsdruck gibt. Forschungsprojekte haben schon vor der Corona-Pandemie bestätigt, dass Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit tendenziell dazu führen, dass die Beschäftigten Mehrarbeit leisten. So haben Prof. Michael Beckmann und sein Team von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel die Auswirkungen unterschiedlicher Personalstrategien analysiert. Es hat sich gezeigt: Angestellte mit weitgehender Autonomie über ihre Arbeitszeit treten keineswegs kürzer. Im Gegenteil, sie arbeiten im Schnitt pro Woche 80 Minuten länger als Kollegen mit reglementierten Arbeitszeiten.

Als Gegenstrategie zur Entgrenzung befürwortet Hannes Zacher ein „psychologisches Grenzmanagement“, etwa eine Abmachung innerhalb der Familie, wie lange und wie strukturiert der Arbeitstag im Homeoffice sein soll. Zu einem ähnlichen Schluss kommen die IAB-Wissenschaftler: „Die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten erhöht sich signifikant, wenn es explizite Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber für die Arbeit von zu Hause gibt.“

Solche Regelungen werden naturgemäß zur Gratwanderung: Einerseits ist die Autonomie bei der Gestaltung der Arbeitszeit ein großer Pluspunkt des mobilen Arbeitens. Andererseits haben Arbeitgeber ein großes Interesse und die Fürsorgepflicht, selbst hochmotivierte Mitarbeiter auf dem Weg in den Burnout auszubremsen. Diese Ambivalenz ist bezeichnend für die Herausforderungen, vor denen Führungskräfte angesichts der sich aktuell rapide wandelnden Arbeitsbeziehungen stehen. „Das Homeoffice ist eine Form der Arbeitsorganisation, die ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung ermöglicht – das müssen Führungskräfte aber auch zulassen“, sagt Dieter Spath, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. In der Vergangenheit habe man das nicht immer getan.

Die positiven Erfahrungen der letzten Wochen könnten einen Schub für das selbstbestimmte Arbeiten auslösen und bewirken, dass man den Menschen endlich mehr zutraut, so der Experte. Auch Birgit Bohle, Personalvorständin der Telekom, fordert in einem Interview mit dem Handelsblatt ein gewandeltes Führungsbild: „Im Büro zu sitzen, ist kein Indikator für Produktivität mehr. Empathie und Vertrauen werden noch wichtiger. Sie müssen über Ziele und Ergebnisse führen können und regelmäßig Feedback geben.“

Betriebe wollen Homeoffice erweitern

Offenbar scheinen die Erfahrungen während der Corona-Pandemie die Unternehmen ermutigt zu haben, sich auf diesen Weg einzulassen. Für die aktuelle Studie „Arbeiten in der Corona-Pandemie – auf dem Weg zum New Normal“ befragte das Fraunhofer IAO die Personalverantwortlichen von 500 in Deutschland ansässigen Unternehmen. Knapp die Hälfte der Teilnehmer will das Angebot an Homeoffice ausweiten. Etwa der gleiche Anteil befindet sich noch in der „Abwägungsphase“. Die grundsätzlich positive Einstellung zur „Arbeit auf Distanz“ basiert laut IAO-Analyse auf den Erfahrungen während der Corona-Krise. Fast 90 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Homeoffice künftig in größerem Umfang realisiert werden kann – ohne Nachteile für die Unternehmen.

Die „neue Normalität“ nach der Corona-Krise wird nicht auf ein „entweder Präsenzarbeit oder Homeoffice“ hinauslaufen. Vielmehr geht es um Lösungen, die das Beste beider (Arbeits-)Welten nutzen: Autonomie, konzentriertes Arbeiten und Flexibilität des Homeoffice, soziale Begegnung und kreativer Austausch vor Ort im Betrieb. Die Formeln für eine effiziente Post-Corona-Arbeitswoche sind variabel – ein bis drei Tage Arbeit auf Distanz, den Rest der Zeit im Unternehmen. Nicht nur die IAO-Forscher sind überzeugt, dass hybride Modelle künftig die Unternehmenskultur prägen werden: Die „neue Normalität“, das „New Normal“, oder auch das „New Different“ werde in einem deutlich höheren Maß von einem Nebeneinander der Arbeitsformen gekennzeichnet sein.

Autor: (aw.)
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmalig in der WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 10|2020, Seite 47, veröffentlicht.