Interview mit Jochen Raschke vom Geschäftsbereich Berufsbildung, IHK Nürnberg für Mittelfranken

Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Lernen 4.0?
Bei allen Themen, die zur Zeit mit „4.0“ verbunden werden, ist das Verständnis der Vielseitigkeit der damit verbundenen Inhalte sehr diffus. Wir sehen unsere Aufgabe im Weiterdenken von konzeptionellen, methodischen und pädagogischen Ansätzen im Zuge der digitalen Transformation. Hierbei betrachten wir gleichermaßen technische Möglichkeiten und Lernmaterialien, die organisatorische Gestaltung wie auch relevante Themen des Arbeitslebens.

Wie lauten die Themen des Arbeitslebens?
Das ist vor allem die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Lernens, vielmehr der Abschlüsse und Kompetenzen. Hierbei stellen wir uns die Frage, inwieweit die vorhandenen, geregelten Weiterbildungsabschlüsse der Höheren Berufsbildung mit den aktuellen Anforderungen mitgewachsen sind und ob die Strukturen für die Wirtschaft so noch tauglich sind. Wir haben in Deutschland genormte und damit verlässliche Abschlüsse in der beruflichen Weiterbildung, die in mancherlei Hinsicht revolutioniert werden müssten.

Was bedeutet hier „Revolution?
Zum Teil hinken die vermittelten Inhalte den aktuellen Techniken hinterher. Wir stellen uns die Frage, welche Basisqualifikationen sinnvoll adaptiert werden können. Unsere Vision lautet, Qualifikationen modularer zu gestalten, um flexibler für die Ansprüche des Arbeitsmarktes qualifizieren zu können. Das ist die Komponente „Technische Qualifikationen“ aber auch z.B. heute erforderliche interkulturelle Kompetenzen. Wir arbeiten auch intensiv an neuen Abschlüssen als „Spezialisten“, die nach einer Ausbildung und vor einer Weiterbildung als Fachwirt oder Industriemeister auf spezifische Aufgaben vorbereiten. Hinzu kommt der Aspekt „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“, der alle Bildungsstufen betrifft.

Das bezieht sich auf Veränderungen in unserer Gesellschaft?
Ja, und dem damit verbundenen Prinzip des nachhaltigen Wirtschaftens. Angehende Fachwirte, Industriemeister, Betriebswirte und andere Führungskräfte sollen die Auswirkungen des eigenen Handelns auf Gesellschaft und Umwelt verstehen lernen, um verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können und betriebliche Prozesse nachhaltig und innovativ zu gestalten. BNE zeigt damit sehr schön einen weiteren Aspekt von Lernen 4.0; es geht hier über reine Faktenvermittlung wie Klimaschutz Biodiversität und Bevölkerungswachstum hinaus. Es geht darum auch Werte und interdisziplinäres Wissen zu vermitteln, Teamfähigkeit und reflexives Denken zu fördern und Kreativität zu entwickeln. Wir wollen intelligente Verbindungen von klassischer formaler Bildung mit modernen Zusatzqualifikationen und informeller Bildung schaffen und dabei neue Lernformen gestalten.

Dann verbirgt sich hinter Lernen 4.0 weniger die Frage nach technischen Innovationen im Bereich Lernen, als vielmehr die Revolution von Inhalten und Methoden?
Das Eine, sowie das Andere. Selbstverständlich setzen wir uns auch mit technischen Innovationen auseinander, aber das sind keine schlagartig neuen Entwicklungen. Schon vor 30 Jahren haben Menschen selbstständig mit CBT (Computer Based Training) an PCs mit dem Betriebssystem DOS gelernt. Das bei uns seit Jahren zunehmend beliebtere sogenannte „Blended Learning“-Konzept ist technisch gesehen letztlich eine Weiterentwicklung auf Internet-Basis, mit digitalen Unterlagen, Webinaren, Chatroom und gemeinsamer Lern- und Kommunikationsplattform. Und mit Dozenten, die eher eine Mentorenrolle spielen. Das revolutionierende daran ist – wenn man diesen Ausdruck verwenden möchte – die weitgehend virtuelle Lerngemeinschaft und vor allem ein neuer Zugangsweg zu Bildung. Erst mit diesen technisch-kommunikativen Möglichkeiten können Menschen mit wechselnden bzw. nicht klassischen Arbeitszeiten oder geringerer Mobilität an längerfristigen Weiterbildungen teilhaben, weil so größtmögliche Flexibilität für das individuelle Lernen gegeben ist.

Dennoch hat man hin und wieder den Eindruck, dass der Umgang mit Youtube-Tutorials und Chats für viele Arbeitnehmer neu ist?
Hier muss man vielleicht zwischen privatem und strukturiertem professionellem Umgang in einer Weiterbildung unterscheiden. Wir haben es in der IHK Akademie ja generell mit Personen zu tun, die bereits im Berufsleben verankert sind die sich aktiv für eine Fortbildung entschieden haben. Hier ist die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen, meist sehr groß. Und selbstständiges und informelles Lernen z.B. auch über MOOCs gewinnt an Bedeutung. Ebenso so hoch ist bei aller Flexibilität und Vielfalt der Möglichkeiten die erforderliche Eigeninitiative und Fähigkeit zur Selbstorganisation einzuschätzen.

Fällt Ihnen ein aktuelles Leuchtturm-Projekt zu technisch revolutioniertem Lernen ein?
Ja, sogar eines, das verschiedene genannte Aspekte verbindet. In Kooperation mit den IHKs Würzburg und IHK Regensburg bieten wir ab Oktober die neue Weiterbildung „Geprüfter Industrietechniker IHK“ an. Der schließt die Lücke zwischen dem Industriemeister und dem schulischen Techniker. Hier wechselt der Präsenzunterrichtsort mit den Dozenten zwischen den beteiligten IHKs, wobei gleichzeitig Live-Übertragungen mit den weiteren Standorten geschaltet werden, natürlich auch mit Live-Diskussionen. Neben den Präsenzzeiten von Vorlesungen in Gruppen wird auch hier mit Chats und online-Tutorials gelernt. Diese Kombination als großflächiges Kooperationsmodell bietet einen echten Mehrwert und maximale Flexibilität – so dass wir mehr Interessierte flexibel mit ins Boot holen können.