Platz fürs Gedränge

Agile Arbeitsmethoden wie Scrum brauchen passende Räume. Doch die kosten Geld. Ein Dilemma, auf das es nicht nur eine Antwort gibt.

Montagmorgen in Friedrichshafen. Jeannine Rapp holt ihren Laptop, ihre Tastatur, ihre Mouse, das Headset und einen kleinen Stapel Unterlagen aus ihrem persönlichen Spind in der Lounge. Ein freundlicher Raum, der mit Barhockern, stylischen Sofas und Bistrotischchen an ein nettes Café erinnert. Zeit für ein Käffchen oder einen anregenden Plausch hat die junge Frau jetzt aber nicht. „Auf zur Arbeitsplatzsuche“, sagt sie. „Je nachdem, ob ich konzentriert arbeiten will oder viel Input brauche, setze ich mich in die Bibliothek oder an einen Teamarbeitsplatz.“

Meiner, deiner? Unser Arbeitsplatz

Rückzugsräume, Besprechungskabinen, gläserne Telefonzellen. Eine schöne neue Bürowelt. Jeannine Rapp arbeitet nicht in einer hippen Agentur, sondern in der internen Kommunikation bei ZF Friedrichshafen. Der Automobilzulieferer hat 2016 in seiner neuen Firmenzentrale ein nonterritoriales Bürokonzept eingeführt. Das heißt, statt festen Arbeitsplätzen gibt es die freie Schreibtischwahl in der offenen Bürolandschaft. Jeder sitzt, wo er will. Alle teilen sich alles. Auch die Führungskräfte. „Die Ausnahme bestätigt die Regel“, relativiert Felix Schiedner aus der Personalabteilung, „das hat aber weniger etwas mit Hierarchien zu tun als mit arbeitsbedingten Notwendigkeiten.“

Konzepte wie diese sind nichts Neues. Sie nennen sich Desk-Sharing, Business Clubs oder Smart Working und sehen aus wie stylische Großraumbüros. Softwaregiganten wie Microsoft und Apple haben es vorgemacht, innovative Unternehmen sind gefolgt.  Mittlerweile beschäftigen sich aber auch Traditionsunternehmen und Mittelständler mit der großen Frage: Muss ich meine gewachsenen Bürostrukturen radikal überdenken? Wie ZF holen sich viele Rat beim Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Neben harten Fakten wie der Flächenwirtschaftlichkeit werfen die Stuttgarter Wissenschaftler auch Aussichten wie diese in die Waagschale: Eine räumlich und organisatorisch flexible Arbeitsumgebung mache auch die Arbeitsweise agiler. Und Agilität ist die Botschaft der Stunde.

Willkommen im Business Club

Laut schallt der Ruf von Heerscharen an Beratern. Mit Konzepten wie Scrum, Holokratie oder Design Thinking wollen sie schwerfällig gewordenen Unternehmen wieder neue Lebensenergie einhauchen (siehe Kasten). „Wenn ich wie bei Scrum vor lauter Agilität nicht mehr zum Arbeiten komme, dann stimmt was nicht. Wie können denn Prozesse agiler werden, indem ich neue Prozesse obendrüber stülpe? Das ist bürokratischer Irrsinn. Noch gefährlicher ist die Holokratie. Ich halte das für eine feudalistische Ideologie“, gibt Christian Scholz, Professor für Betriebswirtschaft an der Universität des Saarlandes, kontra. Design Thinking hält er dagegen für sehr vielversprechend – genauso wie die Investition in eine attraktive Arbeitsumgebung. Doch was das ist, darüber scheiden sich die Geister.

„Unabhängig davon, ob es formal agile Arbeitsmethoden gibt oder nicht, aktivitätsbasierte Bürokonzepte machen das gesamte Arbeiten agiler“, ist sich Büroplanerin Mirjana Loitzl von Cogena sicher. Ihr Unternehmen hat den Begriff der Business Clubs geprägt. „Alle unsere aktuellen Projekte gehen in diese Richtung. Weg von festen Arbeitsplätzen hin zu bedarfsgerechten, offenen Bürostrukturen. Das zieht sich durch alle Branchen und Unternehmen. Wir diskutieren derzeit diese sogar mit öffentlichen Verwaltungen“, sagt sie.

Schreibtischlein wechsel dich

Jeannine Rapp und Felix Schiedner wundert das nicht. Sie fühlen sich wohl, trotz täglicher Schreibtischsuche. „Es ist eine freiere Arbeitsatmosphäre. Mehr Austausch, spontane Meetings, viel mehr Transparenz, und wenn ich meine Ruhe brauche, kann ich mich zurückziehen“, sagt Rapp, und Schiedner ergänzt: „Das Konzept hat uns neue Freiräume gegeben. Dadurch dass sich nun 660 Mitarbeiter 570 Schreibtische teilen, haben wir Platz gewonnen. Platz für mehr Teamarbeit.“

Beide sitzen gerade in einer gläsernen Telefonbox. Eine Telko steht an. „Rechner geschnappt. Telefonspinne angeschlossen, fertig. Kein großes Bohei. Kein Kampf um den Besprechungsraum. So einfach ist das“, bringt es Rapp auf den Punkt. „Eine mobile Plug-and-Play-Technologie ist eine ganz wichtige Säule in dem Konzept. Alles am besten papierlos, dann funktioniert das wunderbar“, schiebt Schiedner nach.

Am falschen Ende gespart

Professor Scholz hält das für bedenklich. „Durch die Digitalisierung wird alles regelrecht zweidimensional. Ich kann nichts mehr sinnlich erleben. Wenn ich nichts mehr anfassen kann, wenn mich nichts mehr Persönliches umgibt, dann geht ein wichtiger Inspirationsfaktor verloren“, sagt er, „vor allem, wenn wir über neue Ideen sprechen.“ Jeannine Rapp muss ihm da recht geben. Nach wie vor macht sie sich handschriftliche Notizen, skizziert ihre Gedanken und pinnt sie an die Wand. „Das geht ja trotzdem. Ich kann es eben nur nicht über Nacht hängen lassen. Am Abend wandert alles wieder in meinen Spind“, sagt sie.

Kreativ sein im Chaos, könne man so nicht mehr, schiebt Scholz nach und hat noch weitere Gegenargumente auf Lager. Umfragen hätten ergeben, dass sich die Mitarbeiter weniger wertgeschätzt fühlten und gestresst seien. „Offiziellwollen alle ihre Belegschaft glücklich machen. In Wirklichkeit geht es ums Sparen. Der Schuss geht nach hinten los“, betont er. Homeoffice-Konzepte mit flexiblen Arbeitszeiten, technisch heutzutage problemlos realisierbar, seien aber auch keine Alternative, da gerade die Generation Z auf eine klare Trennung von Privatem und Arbeit bestehe.

Die Mischung macht’s?

Stattdessen plädiert Scholz für kleine private Büros für alle, die mindestens drei Tage pro Woche im Unternehmen sind – kombiniert mit Inspirations-, Besprechungs- und Kreativitätscenter. „Vormittags im kleinen Kämmerchen konzentriert arbeiten und mittags dann entspannt im Liegestuhl über Neues nachdenken. Das ist faszinierend.“ Auch Loitzl ist keine dogmatische Verfechterin von non-territorialen Bürolandschaften, aber strikt gegen geteilte, kleinere Büros. „Wenn sich drei oder vier Leute eine Bürozelle teilen, ist das eine Katastrophe. Einer telefoniert, die anderen sind abgelenkt. Das Grundrauschen in einer offenen Landschaft dagegen kann man ausblenden.“

Felix Schiedner und Jeannine Rapp von ZF Friedrichshafen gelingt dies problemlos. Rapp vermisst ihr Viererbüro nicht – auch wenn sie manchmal doch etwas wehmütig an ihre Sprüche-Karten zurückdenkt. „Die Vorzüge überwiegen“, sagt sie bestimmt, während ihr Blick zu einem Schreibtisch mit einer knallroten Wand im Rücken wandert. Heute darf ein anderer Kollege an ihrem Lieblingsplatz arbeiten.

Quelle: willmy magazin Nr. 13, April 2018 / Anette Link /  www.willmymediagroup.de 

Alles agil

Scrum (engl. für Gedränge) geht davon aus, dass komplexe Projekte nicht planbar sind. Stattdessen werden Schritt für Schritt kleine Einheiten definiert und abgearbeitet (Sprints). Das Team organisiert sich selbst, nach strikten Regeln und Rollen. Bei täglichen Meetings wird der Projektfortschritt überprüft.

Holokratie zielt darauf ab, Hierarchien aufzulösen, um flexibler reagieren zu können. Statt einzelner Chefs übernehmen selbst organisierte Mitarbeiter-Kreise die Verantwortung. Sie bestimmen autark über ihre Zusammensetzung und Rollenverteilung.

Design Thinking möchte mit einem kreativen Umfeld und dem Input möglichst unterschiedlicher Disziplinen helfen, die Bedürfnisse und Motive von Menschen zu verstehen. Dabei wird bewusst mit einem Perspektivenwechsel experimentiert.

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