Arbeitswelt 4.0 und der Mensch

Als in den 1980er Jahren in der US-amerikanischen Stadt Flint im Zuge einer massiven Krise in der Automobilindustrie quasi über Nacht die Lichter ausgingen und tausende Menschen auf die Straße gesetzt wurden, herrschte erst einmal Schockstarre und Depressivität. Der österreichisch-US-amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann konnte die Stadt dazu motivieren ein außergewöhnliches Sozialexperiment zu wagen. Den arbeitslos gewordenen Bürgern wurde eine Art Grundgehalt angeboten unter der Prämisse, dass sie sich zu Themen und Berufen weiterbildeten, für die sie sich wirklich interessierten. Viele der Teilnehmer des „Zentrums Neue Arbeit“ nutzten diese Möglichkeit und fanden ihr Glück in einem Beruf, den sie „wirklich wollten“ (Bergmann, 2004).

Work Out Loud
Viele der Gedanken und Ideen des Vordenkers Bergmann fließen in die heutigen Konzeptionen der sogenannten Arbeitswelt 4.0 ein. Agile Methoden, wie etwa Design Thinking, Bar Camps oder WOL (Work Out Loud) gehen allesamt von Individuen aus, deren Drang nach Autonomie, Selbstbestimmung und Entscheidungsspielraum quasi ungebremst vorhanden ist. Leider haben all diese Konzepte eines gemeinsam: Sie gehen allesamt von „idealen“ Parametern aus. In der Realität sieht das allerdings oft anders aus, denn Mitarbeiter haben oftmals keine Lust auf Veränderungen, sie stemmen sich mit aller Kraft dagegen oder brennen unter der Last der Change-Dynamik schlichtweg aus.

Craften macht leistungsfähig
Evangelia Demerouti, Professorin für Arbeitspsychologie an der TU Eindhoven, hat sich in ihrer Forschung mit der Frage auseinandergesetzt, welche Kompetenzen Menschen brauchen und auch einsetzen, wenn sie Veränderungsprozesse erfolgreich gestalten. Eine dieser Kompetenzen ist „Job Crafting“, also die proaktive Anpassung der eigenen Arbeitsumgebung an die persönlichen Präferenzen (Demerouti et al., 2001). „Change kommt von innen“ hat Kurt Lewin einmal gesagt und Evangelia Demerouti liefert den empirischen Beweis dafür. Menschen die craften, sind nicht nur leistungsfähiger, sie nehmen ihre Arbeit auch positiver wahr und sind daher robuster gegen Stress und Belastung am Arbeitsplatz. Job Crafter brauchen wenig Führung, denn sie führen sich im Prinzip selbst. In Belastungssituationen passen sie ihre Ressourcen an, indem sie beispielsweise in ihrem persönlichen Umfeld Unterstützung und Feedback einfordern. Wenn der Job zu eintönig wird, suchen sie nach neuen Herausforderungen, indem sie sich beispielsweise mit neuen Themen auseinandersetzen. Wenn die Planung im Projekt holprig oder ineffektiv gestaltet ist, passen sie ihre Arbeitsweisen an. Sie arbeiten dabei jedoch nicht mehr oder härter als andere, sondern sie arbeiten einfach smarter.

Eine aktuelle Forschungsstudie an der FAU Erlangen-Nürnberg (Demerouti, Roth, & Moser, i. Vorb.) zeigt, dass sich Personen, die an einem Job Crafting Training teilnahmen, stärker in Innovationsprozesse einbrachten als Personen aus der Vergleichsgruppe. Bergmann vertritt die These, sich auf das zu besinnen, „was wir wirklich wollen“, sich vom Primat des Geldverdienens zu befreien und im Zweifelsfalle den ungeliebten Arbeitgeber zu verlassen. Demerouti zeigt mit ihrer Forschung eindrucksvoll, dass es auch anders geht: Sie verfolgt die Idee „was nicht passt, wird passend gemacht“. Job Crafting ist sozusagen die Job Revolution von innen und damit die Grundlage für erfolgreiche Veränderungsprozesse.

Quelle: Dr. Colin Roth / www.blackboxopen.com

Dr. Colin Roth
Dr. Colin RothGeschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung BlackBox/Open GmbH & Co. KG sowie des Softwareunternehmens Feedbit Software GmbH
www.blackboxopen.com
www.effecteev.de

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Psychologie, insb. Wirtschafts- und
Sozialpsychologie an der FAU Erlangen-Nürnberg: https://www.psychologie.wiso.uni-erlangen.de/team/wissenschaftlichemitarbeiterinnen/colin-roth/

Lehrbeauftragter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie der University of
Central Florida.

Mitherausgeber von ‚In Practice‘, der Online-Fachzeitschrift für praktizierende Arbeitspsychologen in Europa (European Association for Work and Organizational Psychology, EAWOP).